Wir sehen sie überall an Bahnhöfen, unter Brücken, in der Stadt oder auf der Straße – Obdachlose prägen heutzutage das Stadtbild vieler Großstädte. Auch in Bonn haben Hunderte Menschen kein Dach über dem Kopf – Tendenz steigend. Aber woran liegt das?
„Ich lebe auf der Straße, bin obdachlos und bitte um eine kleine Spende, damit ich mir etwas zu essen holen kann“, lautet der Satz eines Mannes mittleren Alters, der mir abends am Bonner Hauptbahnhof gegenübersteht. Ich gebe ihm ein paar Euro, denn ich weiß, dass er hilflos und auf diese Unterstützung angewiesen ist. Dabei hätte ich mich früher weggedreht, schließlich leben wir in einem Sozialstaat und wer auf der Straße schläft, ist selbst schuld, so dachte ich. Und so oder so ähnlich denken viele Menschen in unserer Gesellschaft. Ich wurde schnell eines Besseren belehrt, als ich vor etwas über einem Jahr als studentische Hilfskraft in einer Notunterkunft als Betreuerin angefangen habe.
Immer mehr Menschen ohne Wohnung
Klar ist, Obdachlosigkeit wird immer mehr zum Problem und die Zahl der wohnungslosen Menschen steigt weiter an. Rund 21.000 Menschen in Nordrhein-Westfahlen (NRW) hatten im Jahr 2015 keine Wohnung. In Bonn waren es ca. 700 Menschen, die von Wohnungslosigkeit betroffen waren. Dies geht aus der Obdachlosenstatistik 2015 des Ministeriums für Arbeit, Integration und Soziales hervor. Da es keine bundesweiten Statistiken zum Thema Wohnungslosigkeit gibt, ist unklar, wie viele Menschen tatsächlich betroffen sind. Deswegen erstellt die Bundesgemeinschaft für Wohnungslosenhilfe e. V. (BAGW) jährliche Schätzungen mit Hilfe von Erfahrungen sozialer Einrichtungen.
Im November 2014 hat die BAGW eine aktuelle Schätzung der wohnungslosen Menschen in Deutschland veröffentlicht. Demnach waren 2016 ca. 860.000 Menschen deutschlandweit ohne Wohnung – das ist eine Steigerung um 150 Prozent im Vergleich zu 2014. Die Weiterentwicklung scheint besorgniserregend. Die BAGW gibt die Prognose heraus, dass es von 2017 bis 2018 einen weiteren Zuwachs um 350.000 auf dann ca. 1.2 Millionen wohnungslose Menschen gibt – eine weitere Steigung um 40 Prozent.
Niemand muss draußen schlafen
Rechtlich gesehen muss kein Mensch in Deutschland auf der Straße schlafen. Die Kommunen und Städte haben eine Unterbringungspflicht. Grundlage für die Unterbringung wohnungsloser Frauen und Männer bildet §14 des Ordnungsbehördengesetz NRW zum Schutz von Leben und Gesundheit. Die Vermittlung erfolgt dann in eine Notunterkunft, die Übergangswohnungsplätze für Wohnungslose bereithält. Viele Obdachlose können nicht in Einrichtungen untergebracht werden. Dort sind z. B. Haustiere oft nicht erlaubt, von denen will sich aber kaum ein Mensch trennen. Auch haben einige Wohnungslose dort schon ein Hausverbot, weil sie sich nicht an Regeln halten können. Dadurch bleibt den Obdachlosen zwangsläufig oft nur die Straße.
Wohnungslose Menschen können also ihren Anspruch bei der Behörde geltend machen. Die Stadt weist dann nach entsprechender Prüfung Personen in Einrichtungen der Obdachlosenhilfe zu. Zuweisende Behörden der Stadt Bonn sind das Amt für Soziales und Wohnen sowie die Anlaufstelle Bonner Innenstadt (Gabi-Wache), die sich wegen der andauernden Umbauarbeiten des Bonner Lochs derzeit in der Maximilanstraße in der Nähe des Cassius-Garten befindet.
Obdachlosenhilfe in Bonn
Eine zugewiesene Einrichtung kann z. B. das Haus Sebastian in Bonn-Endenich sein. Weitere Notschlafstellen sind das Prälat-Schleich-Haus (PSH) des Caritasverbandes für die Stadt Bonn. Im PSH können wohnungslose Männer übernachten. Es befindet sich zentral hinter dem Alten Friedhof in Bonn. Hilfesuchende im Rhein-Sieg-Kreis haben eine Unterbringungsmöglichkeit für eine Notschlafstelle im Don-Bosco-Haus in Siegburg.
Das Haus Sebastian
Das Haus Sebastian (HS) ist eine Notunterkunft der Stadt Bonn für volljährige wohnungslose Frauen und Männer. Träger der Einrichtung ist der VFG. Hier kann jeder unterkommen, der vorher eine Zuweisung durch die Stadt Bonn oder im Notfall über die Gabi-Wache erhält.
Auf 4 Etagen gibt es 54 Zimmer zur Unterbringung von 70 Personen. Bei Bedarf, wie z. B. bei extrem kalten Nächten, kann die Belegzahl auf 90 Personen aufgestockt werden. Auf jeder Etage gibt es eine Gemeinschaftsdusche und Toiletten. Dabei sind die Zimmer einfach ausgestattet: zwei Betten, ein Tisch, zwei Stühle und ein Waschbecken. Damit auch Frauen mit ihren besonderen (Schutz-) Bedürfnissen eine Unterbringungsmöglichkeit haben, hat das HS im 4 Obergeschoss eine separate Frauenetage. Dort haben Männer keinen Zugang. Im Untergeschoss gibt es zwei behindertengerechte Zimmer mit Zugang zu einer eigenen Sanitäranlage mit Dusche und Toilette.
Die Notunterkunft hat das ganze Jahr 24 Stunden täglich geöffnet. Dementsprechend arbeitet das Betreuerteam im Drei-Schichten-System und die Pforte ist rund um die Uhr besetzt. Und genau hier ist mein Arbeitsbereich. Ich kümmere mich gemeinsam mit den anderen Betreuern ganz nach unserem Leitbild „Helfen statt wegsehen“ um alle anfallenden Belange der Bewohner/-innen. Diese sind in jeder Schicht natürlich verschiedenen.
Zu den Aufgaben gehören unter anderem betreuende Aufgaben wie zum Beispiel Ansprechpartner für die Bewohner/-innen in allen Lebenslagen zu sein, Gespräche führen oder Kriseninterventionen im Notfall durchführen. Daneben gibt es auch verschiedene Kontroll- und Ausgabeaufgaben wie den Kioskverkauf, Ein- und Auszüge verwalten, Haus- und Hofrundgänge sowie Zimmerkontrollen und -räumung durchführen. Zwischendrin kommen Verwaltungsaufgaben wie Behördenkontakte oder die Überprüfung der Zuweisung und Anwesenheit hinzu. Da kein Tag wie der andere ist, sind die Aufgaben in jeder Schicht umfangreich und dennoch vielfältig – genauso vielfältig wie die Menschen, die vorübergehend im HS leben.
Unterschiedliche Ursachen für Obdachlosigkeit
Die Ursachen für den Aufenthalt der Bewohner/-innen im HS können von Armut, Arbeitslosigkeit, über Verwahrlosung, Vereinsamung, Gewalt bis hin zu Sucht- oder psychisch und physischen Erkrankungen reichen. Auch Haft- oder Krankenhausantritte und Therapieaufenthalte können zu Wohnungsverlust führen, weil danach kein Wohnraum mehr zur Verfügung steht. Frauen flüchten in der Regel vor häuslicher Gewalt oder Konflikten in der Partnerschaft. Allerdings nimmt die Dauer der Wohnungslosigkeit durch das Zusammenwirken mehrerer Ursachen und Problemlagen häufig zu.
Doppeldiagnose Psychose und Sucht
Wenn ich Frühdienst habe, ist Igor (*Name geändert) in der Regel der erste Bewohner, der mir begegnet. Ein kleiner magerer Typ mit kurzen Haaren der immer seinen Gürtel verliert. Gegen halb sieben kommt er die Treppe herunter „Kriege ich eine Zigarette und einen Kaffee bitte“, sagt er zu mir. Ab und zu darf es auch etwas zu Essen sein, dass wir von der Bonner Tafel oder vom Foodsharing gespendet bekommen. Er kriegt die Zigarette und den Kaffee und verschwindet wieder im Haus.
Das ist an sich nichts Ungewöhnliches, denn man kennt sich ja. Anders an diesem Morgen ist, dass er wieder die ganze Nacht nicht geschlafen hat und ziemlich unter Strom steht. Wohlmöglich hat er zu viel Drogen konsumiert. Ihn müssen wir jetzt im Auge behalten, falls er sich oder andere Bewohner durch eventuelles Fehlverhalten gefährdet. Denn Igor* zählt zu den Bewohnern mit sogenannter Doppeldiagnose: Er leidet an einer psychischen Erkrankung und ist zudem Suchtmittelabhängig.
Generell hat sich das Bild der Belegschaft in den letzten Jahren verändert. Klassische „Notunterkunftsbewohner“ waren alkoholabhängige Männer mittleren Alters. Mittlerweile gibt es Bewohner jeden Alters, besonders viele junge Menschen zwischen 20 und 30 Jahren.
Der Grund dafür ist, dass diese Menschen unter psychischen Erkrankungen oder akuten Psychosen leiden. Psychische Störungen äußern sich zum Beispiel durch Wahnvorstellungen, Sinnestäuschungen und fehlende Krankheitseinsicht. Der Betroffene fühlt sich verfolgt, hat Angst oder ist orientierungslos. Auch eine seltsame Sprechweise kann auftreten. Ursache hierfür ist die Einnahme illegaler und legaler Drogen oder umgekehrt soll der Konsum der Drogen die Erkrankung unterdrücken oder sie dadurch selbst therapieren. Das immer mehr Bewohner/-innen ihr leben nicht mehr meistern können, zeigt die Anzahl der gesetzlichen Betreuungen. Menschen mit Doppeldiagnose haben z. B. öfter gesetzliche Betreuung und erhalten Grundsicherung mit Sozialhilfe, egal welchen Alters.
Kein System für psychisch Kranke
Erfahrungen des HS zeigen, dass psychisch kranke Menschen, die in die Notunterkunft kommen, überdurchschnittlich lange bleiben und wieder kommen. Denn zurzeit gibt es keine Hilfsangebote für diesen Personenkreis außerhalb der Wohnungshilfe.
Anders als bei betreuten Einrichtungen, entfällt in einer Notunterkunft die Mitwirkungspflicht, angebotene sozialarbeiterische Hilfe in Anspruch zu nehmen. Aber es ist wichtig, eben diese Hilfe anzubieten. Im HS sind ingesamt drei Sozialarbeiter für die Bewohner/-innen zuständig, die zusätzliche Beratung und Betreuung anbieten. Nach Feststellung des individuellen Hilfebedarfs geht es in erster Linie um die Wiedererlangung der Wohnhaftigkeit. Darüber hinaus erhalten die Bewohner/-innen Hilfestellungen zur Stabilisierung ihrer Lebenslage sowie die Weitervermittlung zu passenden Hilfsangeboten.
Imke Freischem ist Sozialarbeiterin im Haus Sebastian. Ich habe mit Ihr über ihren Job, Obdachlosigkeit und die Arbeit in der Notunterkunft gesprochen.
Fazit: Obdachlose Menschen sind nicht anders als du oder ich. Der Unterschied ist, dass sie andere Probleme haben, die sie oft in so eine Situation bringen und dazu führen, dass sie Hilfe brauchen. Diese Hilfe ist aber nur wirksam, wenn Staat und Gesellschaft mithelfen. Mit diesem Artikel möchte ich besonders ein Bewusstsein dafür schaffen, dass es wichtig ist, auch diesen Menschen auf Augenhöhe mit Respekt zu begegnen.
Danke für den Überblick über die Obdachlosigkeit in Bonn. Wenn ich es richtig verstanden habe, ist der Anstieg der Obdachlosen auf psychische Erkrankungen zurückzuführen. Gibt es Hinweise darauf, warum es vermehrt zu solchen Erkrankungen kommt?
vielen Dank für deinen Kommentar. Ich muss etwas ausholen. Die Gründe für den Anstieg sind nicht hauptsächlich auf psychische Erkrankungen zurückzuführen. In erster Linie liegt der Anstieg der Obdachlosen an zu wenig bezahlbarem Wohnraum. Gründe für den Wohnungsverlust können zum Beispiel eine Trennung, Schulden oder der Verlust der Arbeit etc. sein. Und diese Menschen sind dann auf günstigeren Wohnraum angewiesen. Menschen, die sich in so einer Lebenskrise befinden, finden aber in der Regel durch die Annahme von Hilfeleistungen schnell wieder eigenen Wohnraum.
Anders als Betroffene, die zu den oben genannten Gründen noch andere Probleme haben. Und das kann eine psychische Erkrankung (Depression, Psychose, Schizophrenie) oder eine Sucht sein. Hinweise dafür liegen in der Biografie des einzelnen Menschen. Ich kann hier wie gesagt nur aus meiner Erfahrung sprechen und diese zeigt, dass die Gründe für diese Störungen aufgrund biologischer Faktoren (z. B. genetische Belastung), familiärer Bedingungen oder belastende Lebenssituationen entstehen können. Es zeigt sich allerdings immer häufiger, dass viel mehr Obdachlose nicht nur ein Krankheitsbild haben, sondern an einer sogenannten „Doppeldiagnose“ leiden. Das heißt, sie sind psychisch krank und süchtig. Dieses Krankheitsbild kann dadurch entstehen, dass diese Menschen versuchen ihre vorhandene psychische Erkrankungen z. B. durch Drogen zu unterdrücken oder auch selbst zu therapieren oder umgekehrt ist die Einnahme verantwortlich für eine psychische Erkrankung. Und da es für diese Betroffenen in Deutschland wenig oder gar keine Systeme gibt, damit sie ihre Wohnhaftigkeit wiedererlangen, trägt dies mit zum Anstieg bei. Ich hoffe, dass ich deine Frage beantworten konnte.